Die Moral auf dem Seziertisch
Die Begründungen, die für moralische Gebote aufgeführt werden können, sind zahlreich. Neben unterschiedlichen religiösen Vorstellungen sind einerseits empirische Modelle zu nennen, die etwa in der Antike das persönliche Erreichen von Eudämonie in Aussicht stellten, und heute zu der biologistischen Erklärung von Sozialverhalten aus egoistischen Motiven, aber auch zu utilitaristischen und sozialdarwinistischen Überlegungen führen. Andererseits sind noch immer Vorstellungen von der Annäherung an das Eine und Gute von Bedeutung, die nicht zuletzt in der idealistischen Philosophie kursieren und bereits mit den platonischen Jenseitsmythen eine starke dogmatische Komponente aufweisen.
Die religiöse Begründung von Moral wird teilweise als einzige wirkliche, gefestigte Alternative zum totalen Werterelativismus der Postmoderne betrachtet, der ohne spirituelles Gegengewicht das ethische Gerüst der westlichen Gesellschaften zum Einstürzen bringen würde. Ist der Glaube wirklich der einzige Ausweg für die von Menschenrechtsrelativierungen und merkantilistischen Güterabwägungen bedrohte zivilisierte Gesellschaft? Wissenschaftliche Untersuchungen verraten immer mehr über die biologischen Voraussetzungen von Ethik, Gewissen und Moral – eine Blaupause für moralische Entscheidungen können sie allerdings nicht liefern.Doch mit zunehmendem Einfluss der Naturwissenschaften auf ethische Debatten halten oft auch biologisierende Vorstellungen von Moral Einzug. Bemerkenswert ist dabei, dass sich bis heute eine sehr einseitige Auffassung von den natürlichen Selektionsmechanismen erhalten hat, und biologisierende Wertesysteme häufig dem Sozialverhalten einen eher niederen Rang zugestehen. Evolution wird häufig als grausamer Prozess natürlicher Auslese dargestellt, in dem nur der Stärkste überleben kann. Ein genauer Blick auf die Natur spricht dieser Vorstellung jedoch Hohn, da sich im Tierreich auch Sozialverhalten, etwa in Form von Unterstützung der Artgenossen, gegenseitiger Fellpflege oder der Rücksichtsnahme bei der Futtersuche in vielen Fällen offenbar gegen die starken Egomanen durchsetzen konnte. Zumindest muss beides genannt werden, wenn von Natur und Selektion die Rede ist.
Ob sich Gläubige und Spiritisten mit einer durch egoistischen Altruismus sowie Familien- und Gattungssolidarität erklärten Moral zufrieden geben können, ist wiederum eine andere Frage, die Gefahr läuft, von akuten moralischen Problemen und Grundsatzfragen hinab in das doch etwas trübe Licht anthropozentrischer Vorstellungen zu führen. Letztendlich ist kaum davon auszugehen, dass die gegenwärtigen Entwicklungen auf Klärung und Erklärung der ethischen Immanenzebene warten.
Was geschieht mittelfristig in und mit einer Gesellschaft, die zentrale Meme des einstigen Glaubens weiter tradiert, in deren Rahmen jedoch moralische Entscheidungen auf der Basis ganz anderer Prioritäten gefällt werden? Eine Gesellschaft, die etwa Vorstellungen vom „Guten“ und „Bösen“ aufrecht erhält, aber die sozioregulativen, humanistischen Aspekte der Religionen längst destruiert hat? Was geschieht, wenn gleichzeitig versucht wird, durch wissenschaftliche Untersuchungen biologisch auffällige Personengruppen auszumachen? Droht die Gefahr einer Projektion?
Forscher an der Universität von Los Angeles haben jüngst veröffentlicht, dass notorische Lügner besondere Hirnstrukturen aufweisen. Die Forscher hielten mit Intentionen nicht zurück und erklärten, dass diese Resultate „vielleicht künftig in der Strafjustiz oder der Geschäftswelt angewendet werden“ könnten. Während ältere Anstrengungen in diesem Kontext wenig Erfolg hatten, könnten sich künftig auch die Träume von Eugenikern langsam erfüllen. Wie die Gesellschaft mit den gewonnenen Erkenntnissen, Vermutungen und Hypothesen idealerweise umzugehen hat, wird jedoch – schätzungsweise – kein Forscher jemals herausfinden. Als treibende Kräfte für künftige Weichenstellungen bleiben vorerst Medien, Politik und Ökonomie – sowie eine unzureichend informierte Bevölkerung.
„Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen […]“
(Sigmund Freud)
Worauf also gründen wir heute noch unsere Moral, wo ja die Religionen mehr und mehr abbrechen und eine freie Wahl der philosophischen und spirituellen Systeme herrscht? Bedeutet dies ein Wegfallen einer einheitlichen, in einer Gesellschaft allen mehr oder weniger gemeinsamen Moral?
Zunächst einige Vorüberlegungen:
Kann man Moral überhaupt legitimieren? Oder ist es gerade das Wesen der Moral, daß sie nicht auf Gründe gestützt werden kann?
Und weiter: Gibt es nicht „die“ MOral, sondern mehr Ausformungen, untersdchiedliche Ansichten? Was also ist die Moral, was hilft sie bilden?
Und wie kann ich jemanden überzeugen davon, daß die Freiheit des Menschen, das Recht auf Leben des Lebendigen, das Recht auf Selbstverwirklichung, aber auch die Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, das Lebenlassen anderer und die Toleranz moralische Forderungen sind?
Auf dieser Ebene kommt man nicht weiter, ohne in eine Diskussion über das Menschenbild und die inneren Strukturen zu rutschen, aus der es kein Entrinnen im Sinne einer für alle akzeptablen Antwort mehr gibt.
Vielleicht, aber das sei nur kurz angemerkt, ist Moral ohnehin nur eine nachträgliche Begründung für unser Handeln.
Nehmen wir aber doch an, daß es Moral gibt und daß es Grundlagen gibt, auf denen sie sich bildet. Was bestimmt dann die Moral des Einzelnen und was bestimmt die Moral der GEsellschaft?
Die MOral des Einzelnen wird nicht primär durch Religion getragen, sondern durch einen Konsenz der Umgebung, in der man lebt, durch Herkommen und Traditionen, die zwar von Religion beeinflußt sind, aber weder ausschließlich noch an erster Stelle. Religion ist nur ein Theil der Einflüsse, und zwar von der Religion sodann nur soviel, wie die Menschen jeweils tatsächlich von ihrer Religion wissen, eine durchaus beträchtliche Diskrepanz! Hier gilt, wie es der Autor für sich bei biologisierenden Ansätzen feststellte, daß ebenfalls viel auf Halbwahrheiten und auf aus Unwissenheit geborenen Vorstellungen beruht, die anstelle der Tatsachen ein Weltbild und Moralgebäude bilden helfen. Auch hierher paßt das Freud-Zitat gut, daß man gemeinhin mit falschen MAßstäben mißt. Und dann sind da noch die praktischen Lebensweisheiten, mit denen man „durchkommt,trotz all der Begründungen und Konzepte“, auf ebensolche diffusen Vorstellungen gegründet.
Was bestimmt aber die Moral einer Gesellschaft?
Dabei bleibt die unbeantwortete Frage bestehen, inwieweit es früher wirklich eine herrschende gemeinsamere Moral gegeben hat als heute, inwieweit es heute offener ist und mehr Meinungen zum TRagen kommen. Vielleicht mag der Eindruck täuschen.
Und doch möchte ich einmal annehmen, daß wir heute, wie der Autor beobachtete, ein Wegbrechen der Religionen zu beobachten haben in unserer Gesellschaft, die hier (im Gegensatz zu anderen allein) Untersuchungsgegenstand ist.
Dies ist ein Wegfall von Ideologien, dem man zunächst einiges Positive abgewinnen kann: Durchaus nicht alle religiösen Moralvorstellungen sind Garanten für „Gutes“… Zudem folgt aus dem Wegfall einer vorherrschenden, die Gesellschaft dominierenden Moralinstanz ein Zuwachs an persönlicher Freiheit, an Pluralität in Meinungen und Moralvorstelungen, an Toleranz.
Andererseits bewrikte der Wegfall einer gesamtgesellschaftlich mehr oder weniger geltenden Ideologie offenabr eine Hinwendung mehr zum eigenen ICh: ein Ich-zentriertes Denken, Suche nach eigenem Glück, ist in unserer Gesellschaft und in unserer Zeit überall zu beobachten, Selbstverwirklichung als Schlagworte unserer Zeit, und eine möglichst große Freiheit wird für diese persönliche Selbstverwirklichung beansprucht, auch eigene Ideologien werden selbst gesucht und für sich, für das eigene ICh gefunden. Man mag den eindruck gewinnen, daß in einer Gesellschaft mit uneinheitlichen Moralvorstellungen, vielleicht unklaren moralischen Positionen, ein Aufweichen der Moral zu finden sei, eine generelle Orientierungslosigkeit, durch die Pluralität, als deren Kehrseite, entstanden.
Die Frage ist, was bleibt, was uns ins Gewissen redet, wenn unsere Selbstverwirklichung mit den Interessen anderer kollidiert, wenn Menschlichkeit nicht ökonomisch ist, was kann uns noch davon überzeugen, daß das menschliche Leben schützenswert ist?
Die FRage bleibt, ob die Hoffnung des Autors sich erfüllen kann, und die biologisierenden Ansätze diese Funktin der Religionen übernehmnen kann, wahrscheinlich wäre sie mit einem solchen an sie gestellten Auftrag (nur momentan?) überfordert. Wie oft liest man, daß sich Forscher gegen diesen Auftrag wehren, darauf verweisend, doch nur zu forschen und nicht verantwortlich zu sein für alles, was später einmal ihre Ergebnisse in der Gesellschaft bewirken. Vielleicht scheint sich das jedoch zu wandeln, tatsächlich wird doch einiges in der Öffentlichkeit diskutiert (nicht genug allerdings), man denke nur an die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Diskussionen über den freien Willen des Menschen. Vielleicht können durch derartige öffentliche Diskussionen falsche Vorstellungen durch richtigere ersetzt werden? Ein Zurück zu einer einheitlichen Ideologie ist wohl kaum wünschenswert. Vielleicht muß an die Stelle der Ideologien ein aufgeklärterer Mensch treten, ein vor allem informierterer Mensch, der sich der Grundlagen seiner Moral bewußter wird und sich bemüht, seine falschen Maßstäbe zu korrigieren!
Mehr Öffentlichkeitsarbeit der Forscher ist gefordert, und mehr Interesse seitens der Menschen – statt des passiven Hinnehmens oder, schlimmer noch, Nichtbeachtens – als mündige, unserer modernen Zeit angemessenere Menschen.