Von Böcken und Gärtnern
Nachdem immer offensichtlicher wird, das Hartz IV Mehrkosten in Milliardenhöhe verursacht, obwohl es doch, wie auch immer, das Gegenteil bewirken sollte, tritt das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und mit ihm der scheidende Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) die Flucht nach vorn an. Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005 versucht den Hilfebedürftigen den schwarzen Peter für die Kostenexplosion zuzuschieben. In der Broschüre mit dem Titel „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ heißt es wörtlich: „Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben, übereinstimmend die Bezeichnung „Parasiten“.“
Weiter wird es in dem Text über Sozialmissbrauch zwar als „völlig unstatthaft“ bezeichnet, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen um dabei aber gleichzeitig zu beschreiben, dass das Verhalten von Sozialbetrügern besonders verwerflich sei. Man schreckt jetzt nicht einmal mehr vor Anleihen beim faschistischen Vokabular zurück, um Arbeitslose und sozial Schwache zu diffamieren.
In nationalsozialistischen Texten finden sich häufig biologische Metaphern, beispielweise wenn vom Volkskörper die Rede ist, der durch Parasiten, Bakterien, Schmarotzer erkrankt, weswegen hygienische Maßnahmen erforderlich werden, welche die Gesundheit des Volkskörpers garantieren. In diesem Zusammenhang ist folgende Stelle in „Mein Kampf“ besonders prägnant: „(Der Jude) ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab (…)“ (aus: HITLER, A.: Mein Kampf, 1. Band. München 193312, 334).
Auch heute scheint der „Volkskörper“ der in diesem Pamphlet des Bundesministerium als „freiheitliche Gesellschaft, in der die Ehrlichen sich als Dumme fühlen“ umschrieben wird, wieder bedroht. In einer Passage werden Arbeitslose anhand eines Beispiels mit „Urinflecken auf dem Teppich“, verstaubten Möbeln und herumliegenden Essensresten in Verbindung gebracht. „Hier haben Vandalen ihr Quartier bezogen“, hetzt es.
Auch die Schilderung der Luxuswohnungen von ALG II-Beziehern darf natürlich auch nicht fehlen: „Mondäne Villen reihen sich in vielen Straßenzügen aneinander wie Perlen an einer Kette.“
Keine Rede davon, das immer mehr Arbeitslose Umzugsaufforderungen erhalten, weil ihre Wohnungen ein paar Quadratmeter zu groß sind oder weil die jeweiligen Bundesländer Mietobergrenzen anlegen, in deren Rahmen kaum geeigneter Wohnraum zu finden ist.
Aber egal- betrügerische Hilfebezieher, die sich künstlich arm rechnen sind Schuld am Niedergang dieses Landes.
Dementsprechend konnte auch die Bundesagentur für Arbeit nicht abseits stehen. Eine Mißbrauchsquote von über zehn Prozent sei der „unterste Rand“ einer seriösen Schätzung, verkündete der stellvertretende Verwaltungsratschef der Behörde, Peter Clever, dessen Einschätzungen auf einer Telefonumfrage beruht, mit der die Arbeitsagenturen bzw. von ihr beauftragte Call-Center in den vergangenen Monaten ihre „Kunden“ ausgefragt haben. Man wählte 390.000 ALG II-Bezieher an, von denen 170.000 trotz wiederholter Versuche nicht erreicht worden seien und 43.000 hätten die freiwillige Befragung verweigert. Da sich bei sieben Prozent der Verbliebenen herausgestellt hat, dass sie gar nicht arbeitslos seien, weil sie zum Teil vergessen hätten, eine Änderung wie etwa den Erhalt einer Lehrstelle zu melden, macht man jetzt die durch nichts zu fundierende Rechnung auf, das es bei den nicht erreichten 170 000 ebenfalls zu einem Mißbrauch gekommen sein muss. Das diese, schon im Vorfeld vom Datenschutzbeauftragten Peter Schaar krit
isierte Telefonumfrage freiwillig war, das also niemandem ein Strick daraus gedreht werden kann, wenn er den Hörer einfach wieder auflegt, wird hier selbstverständlich nicht erwähnt. Auch das man von den 170.000 nicht erreichten absolut nicht erwarten kann, das sie den ganzen Tag zu hause sitzen und auf Anrufe vom Arbeitsamt warten, sondern im Gegenteil zum Klischee des RTL 2 guckenden Couchpotato hinaus gehen und selbst aktiv werden, kann nicht gegen sie verwandt werden.
Diese Sündenbockkampagne schmeißt mit pauschalisierten Behauptungen um sich, die als tendenziöse Fakten verkauft werden. Hartz IV hat sich als Fehlschlag erwiesen, der Abbau von regulären Arbeitsplätzen steigt rasant an, die Arbeitslosenzahlen hinter allen Statistiktricks ebenso.
Die neue Regierung benötigt schnell statistische Erfolge, sie doktert weiter an den Symptomen herum und hat dabei keinerlei Konzept für eine ernsthafte Veränderung ihrer Politik der Verteilung von unten nach oben.
Und- natürlich gibt es wie überall, Betrüger. Aber sie sind weder die Ursache für die Massenarbeitslosigkeit, noch bezeichnend für die „Kunden“ der Arbeisämter. Sieht man die Behauptungen, die Betrugsrate läge bei 10% von einer anderen als der gewollten Perspektive aus, dann tritt in den Vordergrund, das 90% aller Leistungsbezieher von der Agentur als Hilfebedürftig eingestuft werden.
Sechs Bewerbungen mindestens muss ich je Monat vorweisen? Ich habe innerhalb eines Jahres circa 400 Bewerbungen – davon viele Initiativbewerbungen – geschrieben. 300 davon gingen per E-Mail heraus. Wenn ich mir dann die Äußerungen von diesem Clement aus der Vergangenheit betrachte, komme ich nur zu einem Schluss: Dieser weltfremde Mensch von der SPD ist eine Schande für unser Land! Aber vielleicht passt er dabei nur perfekt zur SPD…
Ein paar kurze Anmerkungen zu den thematisierten Ergüssen des „Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit“:
Beim Parasitismus ernährt sich der Parasit nicht einfach „auf Kosten“ des Wirtes, sondern in der Regel direkt durch Bestandteile des Wirtes, weshalb er auch direkt mit dem Wirt verbunden sein muss, „indem er entweder im Körper des Wirtes (als Endoparasit) oder auf diesem (als Ektoparasit) lebt“ (aus „Biologie“ von Neil A. Campbell, S. 1342). Auch im Internet ist dies bekannt: „[Parasitismus] ist weiter dadurch definiert, dass der Parasit einen deutlichen Vorteil dadurch hat, daß er sich größtenteils durch Bestandteile des Wirtes ernährt.“ (aus dem Wikipedia- Eintrag „Parasitismus“)
„Auf Kosten“ des Wirtes zu leben ist also keine korrekte Definition von „Parasitismus“, auch bspw. Organismen in pro- oder parabiotischen „Beziehungen“, bei denen der Wirt nicht oder nicht bemerkenswert geschädigt wird, leben „auf Kosten“ des Wirtes…
Als einzige Vorstellung, unter der die Verwendung des Begriffes „Parasit“ somit überhaupt SInn machen könnte, bleibt wohl die einer Art „Volkskörper“, von dessen Bestandteilen sich die menschlichen „Parasiten“ ernähren.
Bemerkenswert ist auch der Grund, aus dem Begriffe aus dem Tierreich laut dem genannten Bundesministerium dann doch nicht nicht auf den Menschen übertragen werden sollten: Sozialbetrug ist „nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des EInzelnen abhängig“ (wir alle wissen ja spätestens seit Platon, dass menschliche Seelen vollkommen eigenständige, vom Demiurgen als der Ideenwelt verbundene Entitäten geschaffen wurden und mesnschliche Entscheidungen mit „der Natur“ natürlich überhaupt nichts zu schaffen haben). Eigentlich wären Insekten- und Bakterienmetaphern ja eine ganz praktische Sache, aber der Mensch ist eben um Dimensionen schlimmer. Eine Begründung, die wohl auch vor 60 Jahren nicht wesentlich drastischer hätte formuliert werden können.
Der Begriff „Parasit“ wurde weiterhin nicht nur in der Nazi-Rhetorik, sondern wird auch im heutigen Sprachgebrauch eindeutig zur Diffamierung von Menschen verwendet. Die Einführung des Begriffes unter dem Motto „Biologen würden das zweifellos so bezeichnen, aber wir machen das natürlich nicht“ kann m.E. nur als recht platter Versuch der Rationalisierung bezeichnet werden. Auch die Umstände, dass der Report einerseits den Anschein von Differenzierung zu wahren versucht, indem quasi zwischen Sozialschmarotzern und gebilligten Sozialhilfeempfängern unterschieden wird, und andererseits nicht nur kleine Schusters und Ibrahims angeklagt werden, sondern zumindest in ein paar Zeilen (von 33 Seiten) auch Unternehmen erwähnt werden, macht die verwendete Rhetorik nicht weniger erschreckend.
Was ist erst von einer großen Koalition zu erwarten?
>…Die Telefonaktion als Grundlage einer generellen Einschätzung für alle Langzeitarbeitslosen zu nehmen, sei jedoch unzulässig, kritisierte Markus Kurth, Arbeitsmarktexperte der Grünen im Bundestag, im Gespräch mit der taz. Die von der BA angerufenen 390.000 Langzeitsarbeitslosen seien nämlich keine repräsentative Stichprobe, sondern eine bestimmte Auswahl gewesen. Dabei habe es sich um Leute gehandelt, die sich lange nicht mehr bei der Arbeitsagentur gemeldet hätten und deren Verbleib unklar gewesen sei. Auch eine Sprecherin der BA bestätigte, dass die Telefonumfrage „nicht repräsentativ“ sei.
In zunehmende Kritik gerät auch der so genannte Report vom Arbeitsmarkt unter dem Titel „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ,Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“, der vom Clement-Ministerium herausgegeben wurde. Sozialverbände kritisierten die 33-seitige Broschüre vor allem wegen der Sprachwahl, die Langzeitarbeitslose in die Nähe von „Parasiten“ rückt (siehe Kasten).
Man habe für die Schrift Medienberichte über Sozialbetrug ausgewertet und durch eine externe Journalistin in den Arbeitsagenturen Missbrauchsfälle prüfen lassen, erklärte Andrea Weinert, Sprecherin im Bundesministerium für Arbeit, auf Anfrage. Man habe sich dabei bewusst *“einer journalistischen Sprache“* bedient, um *“mehr Aufmerksamkeit zu erzielen“.* In dem „Report“ finden sich keine Daten, sondern lediglich Einzelfälle. Die reißerische Aufmachung sei „unter Niveau“, rügte Kurth…< http://www.taz.de/pt/2005/10/21/a0064.nf/text
„journalistische sprache“? „aufmerksamkeit erzielen“ durch anleihen beim NS-vokabular? durch billige hetze?
eher ablenkung vom eigenen versagen, mit welchen mitteln auch immer.