Chancenungleichheit statt Verteilungsgerechtigkeit?

Nichts neues für Soziologen: Die individuellen Aussichten im deutschen Bildungssystem korrelieren weit stärker mit der sozialen Herkunft, als dies in anderen Industriestaaten der Fall ist. Eine Auswertung neuer PISA- Ergebnisse bestätigt nun, dass sich die Sítuation in Deutschland weiter verschlechtert. Insbesondere im Bundesland Bayern zeigt sich die Chancenungleichheit in extremer Ausprägung: Die Chance, das Gymnasium zu besuchen ist für einen Arztsohn etwa 6,7-mal so groß wie für einen Bauarbeiter-Jungen mit vergleichbaren intellektuellen Fähigkeiten. .
Relativierungen ließen nicht lange auf sich warten. Bereits am Tag, der auf die ersten Vorabmeldungen folgte, wollte der deutsche Lehrerverband das unschöne Bild idelogisch zurechtrücken: es entscheide nicht die soziale Herkunft über den Schulerfolg, sondern die Bildungswilligkeit.
Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL):
„Es gibt in Deutschland keine sozialen Barrieren am Gymnasium. Wer das entsprechende Leistungsvermögen und die entsprechende Lernbereitschaft mitbringt, kann das Abitur machen, egal aus welcher Familie er kommt; man muss es eben nur wollen.“
Es ist zweifellos richtig, dass Menschen aus der Unterschicht bisher der Zugang zum Gymnasium nicht verboten wird – an den realen Schwierigkeiten und oftmals finanziell bedingten Barrieren ändert diese Erkenntnis jedoch nichts. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes nicht einmal auf die finanziellen Probleme der Bildungseinrichtungen hinweist, in denen Lehrer, aber auch Betreuer im Kindergarten oftmals wenig Möglichkeiten haben, Kinder aus sozial benachteiligtem Umfeld angemessen zu fördern und ihnen die benötigten Medien zur Verfügung zu stellen. Stattdessen konzentriert sich Josef Kraus auf die Eltern, die ihre begabten Kinder „bewusst nicht auf das Gymnasium schicken, obwohl diese Kinder das Zeug dazu hätten“ und „eine Schulbildung ihrer Kinder auch außerhalb des Gymnasiums als gleichwertig ansehen“. Und als wäre es letztendlich doch nicht so wichtig, ob es nun stimmt oder nicht, mit dieser Chancengleichheit, verweist der Präsident des deutschen Lehrerverbandes auf die erleichternde Tatsache, dass ja gar nicht jeder das Abitur machen muss:
„Außerdem sollten wir in Deutschland endlich davon wegkommen, Abitur und Studium zum alleinigen Maßstab zu machen. Wer bei der Betrachtung des deutschen Bildungssystems auf Abiturienten-, Studenten- und Akademiker-Quoten fixiert ist, der verwechselt hartnäckig Qualität und Quantität. “
So gesehen erscheint es auch wenig dramatisch, wenn die Chance auf ein Abitur mit der sozialen Herkunft verflochten ist, denn andere Ausbildungen sind ja in Deutschland ebenfalls qualitativ hochwertig. Mit dezenter Ironie könnte man nun auch die These aufstellen, dass die Qualität einer akademischen Ausbildung in Deutschland – relativ gesehen und im internationalen Vergleich betrachtet – schlechter ist als die Qualität einer Ausbildung bspw. im Handwerk. Alles halb so wild mit der Chancenungleichheit.
Aus den Reihen der Kultusministerkonferenz wurden neben Relativierungen auch einige Versprechen und Vorhaben bekannt, die sich vor allem um frühkindliche Bildung und das Vermitteln von Sprachkompetenz drehen, und die Verantwortung weitgehend den Ländern und regionalen Bündnissen überlassen wollen. Die baden-württembergische Kultusministerin, CDU- Politikerin und designierte Bundesbildungsministerin Annette Schavan wies unterdessen zurück, dass die jüngste Pisa-Studie eine Verschlechterung der Chancengleichheit deutscher Schüler zeige:
„Dass die Chancengleichheit sich verschlechtert habe, stimmt schlicht nicht.“
Aufgrund von Veränderungen bei Messverfahren und Auswertung hält Schavan die veränderten Zahlen nicht für aussagekräftig.

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Eine Antwort

  1. Von diesem Montag an wird an den Bildungseinrichtungen der Bundesrepublik Vernor Muñoz unterwegs sein, um als Sonderberichtserstatter für die UN- Menschenrechtskommission zehn Tage lang die Chancengleichheit an deutschen Schulen sowie die Behandlung von A

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