Narrenfreiheit im 21. Jahrhundert
Der US- amerikanische Unterhaltungssender Comedy Central scheint zunehmend an Bedeutung für die politische Meinungsbildung in den USA zu gewinnen. Nach kontroversen Auftritten von Jon Stewart, in erster Linie als Gast in der politischen Talkshow „Crossfire“ im Jahr 2004, sorgte jüngst Stephen Colbert im Washingtoner Hilton- Hotel beim Dinner der Korrespondenten im Weißen Haus für verdutzte Gesichter.
Ein Stück Mediengeschichte: Stewart im „Kreuzfeuer“
„Sind die Ereignisse auf der Welt wirklich zum Lachen? Sie sind es, zumindest für Jon Stewart.“
So wurde der Moderator der Daily Show dem CNN- Publikum angekündigt, doch man rechnete wohl kaum damit, dass Stewart letztendlich den Moderatoren der Sendung eine etwa 20- minütige, in erster Linie von Werbepausen unterbrochene Moralpredikt über die Verantwortung der als seriös geltenden Medien halten würde. Auf die Aufforderung, doch etwas witziger zu sein, entgegnete er: „Nein, ich werde mich nicht zu eurem Affen machen!“ und fuhr relativ unbeeindruckt mit seiner Kritik fort. Crossfire habe seiner Ansicht nach versagt, die amerikanische Öffentlichkeit über politische Themen zu informieren; das Polit- Theater sei nicht nur „schlecht“, sondern „verletze Amerika“.
Einer der wenigen Einwände der Crossfire- Moderatoren, der mehrfach wiederholt wurde, bestand in der Erwiderung des Vorwurfes: Stewart selbst könnte ja in seiner „Daily Show“ auf Comedy Central seriöseres Infotainment vorleben. Der unkonventionelle Gast reagierte souverän:
„Mir war nicht klar, dass sich die Nachrichtenorganisationen in Sachen Integrität nach Comedy Central richten.“
Die Aufzeichnung dieses Wortwechsels wurde zu einem der meist gesehenen politischen Videos, die im Internet zirkulieren. Im Januar 2005 stimmte Jonathan Klein, der kommende Präsident von CNN, Jon Stewart in einigen Punkten nachträglich öffentlich zu. Zuschauer würden brauchbare Informationen benötigen, nicht eine Runde voller Leute, die sich gegenseitig anschreien. Er fügte hinzu, dass es sich bei diesen Äußerungen nicht um einen Seitenhieb auf FOX handele: „Ich denke, dass sie dieses Format besser machen als sonst jemand.“ Crossfire wurde zur Freude von Stewart (und zahlreichen CNN- Konsumenten) abgesetzt.
„Truthiness“
Stephen Colbert, der in seiner Rolle als konservativer Meinungsmacher US- Moderatoren wie Bill O’Reilly (The O’Reilly Factor) oder Sean Hannity (Hannity & Colmes) parodiert, tritt zwar nicht wirklich für Wahrheit, dafür jedoch umso stärker für „Truthiness“ ein, womit ein emotionales, instinktives „Wissen“ bezeichnet wird, das sich nicht von Fakten beeindrucken lässt. In diesem Zusammenhang ist eine zu Beginn 2006 veröffentlichte wissenschaftliche Studie bekannt geworden, die nahe legt, dass bei politischen Diskussionen – insbesondere wenn es um widersprüchliche Aussagen von Vertretern des eigenen Lager geht – diejenigen Gehirnbereiche vermehrt aktiv werden, die für die Kontrolle von Emotionen zuständig sind.
Colbert setzt die Mitteilung seines „emotionalen Wissens“ eindrucksvoll in Szene und verteidigt sie leidenschaftlich vor allen, die ihn mit Fakten zu bedrohen scheinen. In die Show „The Colbert Report“ werden häufig bekannte konservative Politiker, Autoren und Wissenschaftler eingeladen, die sich – teilweise sehr überzeugt und auch medientauglich, häufig jedoch zumindest zeitweise verunsichert – mit einem fanatisch zustimmenden Gesprächspartner auseinandersetzen dürfen, der ihre Ansichten, mitunter ohne wirklichen Widerspruch, ins Absurde übersteigert. Kritiker werfen dem „Colbert Report“ und der „Daily Show“ vor, durch die zahlreichen Interviews mit Vertretern der politischen Rechten die entsprechenden Personen insbesondere bei Jugendlichen bekannt zu machen. Jedoch kann sicherlich bezweifelt werden, dass die vertretenen politischen Ansichten von allzu vielen Zuschauern übernommen werden. Umfragen weisen jedenfalls darauf hin, dass Zuschauer der „Daily Show“ durchschnittlich besser als die Vertreter der entsprechenden Vergleichsgruppen über politische Themen informiert sind.
Colbert trifft seinen Helden
Das „White House Correspondents‘ Association Dinner“ ist eine langjährige Tradition in Washington DC, die bis ins Jahr 1920 zurückzuverfolgen ist. Gewöhnlich sprechen die Korrespondenten der großen Medien sowie ein geladener Gast über die Entwicklungen des vergangenen Jahres, und sorgen mit seichten Scherzen und dezenten satirischen Ausführungen für allgemeine Heiterkeit. Wenngleich derartige Veranstaltungen der politischen Unterhaltungsindustrie als Kanalisierung von Kritik verstanden werden können, und der Narrenfreiheit in diesem Kontext häufig nur ein paar harmlose Witze abgerungen werden, hatte die Rede von Stephen Colbert eine ganz eigene Qualität. Wie aus seiner eigenen Sendung bekannt, mimte er für 20 Minuten den konservativen, Bush- treuen Republikaner, der sich in seiner Wahrheitssuche von Enzyklopädien nicht beeindrucken lässt, aus Rücksichtnahme gegenüber Rumsfeld die Pension von Generälen verhindern will und nebenbei die anwesenden Korrespondenten auffordert, zur Ignoranz der vergangenen Jahre zurückzukehren und ein paar Fantasy- Romane über investigative Journalisten zu schreiben:
„Wer ist die Britannica, um mir zu sagen, dass der Panama- Kanal 1914 gebaut wurde? Wenn ich sagen will, dass er 1941 gebaut wurde, ist das mein Recht als Amerikaner. Ich stimme dem Präsidenten zu: lassen wir die Geschichte entscheiden, was geschehen oder nicht geschehen ist!“
Auch wenn bei anderen Rednern selbst die seichtesten Scherze mit Gelächter und Applaus belohnt wurden, blieb das Publikum bei vielen Pointen Colberts auffallend still. Die Reaktionen der Presse waren ebenfalls sehr verhalten, während der Redner in Blogs und alternativen Medien gefeiert wurde. Allein die Vorstellung, dass Colbert seine engagierte Parodie wenige Meter vom Präsidenten entfernt gehalten hatte, der für diesen Anlass zur Jovialität verurteilt war, sorgte in der Blogosphäre für Heiterkeit.
In seiner eigenen Show machte sich Colbert schließlich über die teilweise ausbleibenden Reaktionen seines Publikums lustig, indem er von einer „sehr respektvollen Stille“ sprach, und bemerkte, dass ihn die Menge liebte: „Sie trugen mich praktisch auf ihren Schultern hinaus, obwohl ich noch gar nicht fertig war.“
Auswahl an Artikeln zum Thema:
Ignoring Colbert, Part Two
Stephen Colbert’s Attack On Bush Gets A Big ‚No Comment‘ From U.S. Media
After Press Dinner, the Blogosphere Is Alive With the Sound of Colbert Chatter
Jon Stewart Defends Colbert’s Dinner Speech
Colberts Rede samt Text des anschließend gezeigten Videos von Stephen Colbert und Helen Thomas:
http://www.dailykos.com/storyonly/2006/4/30/1441/59811
Ein Transkript zu der erwähnten „Crossfire“- Folge mit Jon Stewart:
http://transcripts.cnn.com/TRANSCRIPTS/0410/15/cf.01.html
Eine Antwort
[…] man sich an den interessanten Auftritt Stewarts in der kurzzeitig später eingestellten Sendung Crossfire […]