Plan B
Irakischen Politikern und Analysten zufolge befindet sich das Zweistromland gegenwärtig in der schlimmsten politischen Krise seit dem Fall des Hussein-Regimes. Die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten drohen auf politischer Ebene zu eskalieren und könnten zum Bruch der herrschenden Koalition führen.
Die Frequenz der Terroranschläge ist wieder auf einem hohen Level angekommen, und Pentagon-Statistiken zufolge hat die Anzahl der Attacken im Irak in den letzten Monaten sogar den höchsten Tagesdurchschnitt seit 2003 erreicht. Gleichzeitig gibt es schwere Probleme bei der Versorgung der Menschen, u.a. mit Elektrizität. In Bagdad ist bspw. gegenwärtig nur für ein bis zwei Stunden pro Tag Strom zu erhalten, in den letzten zwölf Monaten pendelte der Wert zwischen vier und sieben Stunden. Verantwortlich dafür sind nicht zuletzt die zahlreichen Anschläge gegen Öl- und Elektrizitätsinfratruktur. Doch auch zivile Opfer von US-Militäreinsätzen sorgen immer wieder für Aufregung bei der Bevölkerung. In einer von World Public Opinion durchgeführten Umfrage wurde jüngst festgestellt, dass 71 Prozent der befragten Iraker für einen Abzug der US-Truppen innerhalb eines Jahres plädierten. 20 Prozent der Befragten sprachen sich für einen Abzug innerhalb von zwei Jahren aus, und nur 9 Prozent gaben an, der Abzug der US-Truppen solle von einer Verbesserung der Sicherheitslage abhängig gemacht werden, wie es die Haltung der Bush-Administration ist.
Fareed Zakaria und der Plan B
Dem US-Präsidenten bereitet unterdessen neben der Lage im Irak auch sein Heimatland Schwierigkeiten. Die Unterstützung, die er in der Bevölkerung genießt, ist zum dritten Mal auf einem Tiefpunkt angelangt. 65 Prozent der befragten Amerikaner lehnen einer von der Washington Post und ABC News durchgeführten Umfrage zufolge die Politik des Präsidenten ab – nur knapp vorbei an den Rekordwerten von Truman, der im Koreakrieg mit 67 Prozent Ablehnung gestraft wurde, und Nixon, der – kurz vor seinem Rücktritt 1974 – 66 Prozent der Amerikaner nicht mehr überzeugen konnte.
In Anbetracht dieser Situation kann es kaum überraschen, dass sowohl in der US-Politik als auch in den Medien schon zahlreiche Überlegungen zu möglichen Strategiewechseln und Ersatzplänen angestellt wurden.
Neben Truppenverstärkungen, Truppenabzug und Friedenskonferenzen wird immer wieder über die Denzentralisierung des Landes und dessen Aufteilung in eine schiitische, eine sunnitische und eine kurdische Zone diskutiert, die jedoch der gegenwärtigen Verfassung des Irak widersprechen würde. Tom Evslin meinte zu diesem Thema schon im vergangenen Jahr: „Plan B ist sehr einfach: Aufhören, den Irak zusammenzusetzen. […] Wer sagt denn, dass es ein Land mit dem Namen Irak geben muss?“
„Drei starke Regionen mit einer eingeschränkten, aber effektiven Zentralregierung,“ fordert auch Leslie H. Gelb, der gegenwärtige Präsident des Council on Foreign Relations (CFR), obwohl Kritiker befürchten, dass ein solches Vorhaben erst recht im Bürgerkrieg enden würde.
Andere Beobachter glauben hingegen zu erkennen, dass ein Plan B bereits mehr oder weniger heimlich umgesetzt wird:
„Plan A war es, Wahlen im Irak, im Gaza-Streifen und im Libanon abzuhalten, und aus diesem Prozess sollten die George Washingtons, die Thomas Jeffersons, die James Madisons des Nahen Osten hervorgehen, und sie sollten Fragen debattieren wie [das Verhältnis von] Kirche und Staat, Bürgerrechte… Nun sind wir bei Plan B angelangt: man lässt fanatische religiöse Strolche auf beiden Seiten wählen und diese fangen an, sich gegenseitig umzubringen, und dann bringen sie nicht uns um. In einer bestimmten Hinsicht funktioniert es also.“
Diese Aussage stammt nicht von einem Verschwörungstheoretiker oder Agitatoren am linken oder rechten Rand der Gesellschaft, sondern von Fareed Zakaria, Chefredakteur von „Newsweek International“ und Kommentator beim Nachrichtensender ABC News, der Jon Stewart in der Daily Show mit diesen Worten die Situation im Irak erklärte. In seinen außenpolitischen Ansichten wird Zakaria gemeinhin als gemäßigter Internationalist wahrgenommen, der die Ausbreitung von Demokratie, wirtschaftlicher Globalisierung und Freihandel vertritt, jedoch insbesondere bei Kriegseinsätzen skeptisch gegenüber Alleingängen der USA ist.
Seltener erwähnt wird allerdings, dass Zakaria im November 2001 an einem Treffen mit dem damaligen stellvertretenden US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz teilnahm, in dem die künftige US-Politik gegenüber dem Nahen Osten besprochen wurde. Bob Woodward von der Washington Post zufolge war der Sinn des Treffens, die besten Argumente, die für einen Krieg sprachen, zusammenzufassen. Von dem Ergebnisbericht, den man für George W. Bush anfertigte, und über den Woodward später schreiben sollte, dass er den Präsidenten erst zur Focussierung auf den Nahen Osten brachte, wusste Zakaria angeblich nichts:
„Ich dachte, es wäre ein Brainstorming-Treffen. Mir wurde nicht mitgeteilt, dass es ein Dokument geben wird, in dem unsere Ansichten zusammengefasst werden, und ich habe ein solches Dokument auch niemals gesehen.“
Der zweite beim fraglichen Treffen anwesende Journalist war Robert D. Kaplan, der inzwischen für The Atlantic Monthly schreibt. Kaplan verneinte die Frage der New York Times, ob es möglich sei, dass einer der Beteiligten nichts von der Anfertigung des Dokuments mitbekommen habe.
Wie kommt dieser einstige Irakkriegs-Befürworter dazu, „divide et impera“ als Plan B in Aktion zu benennen? Stieg Zakaria womöglich die Ablehnung des Daily Show-Publikums gegenüber der Bush-Administration zu Kopf?
Eine kritische Haltung zumindest gegenüber dem Einsatz im Irak ist inzwischen bei einigen Journalisten und Politikern des republikanischen Lagers festzustellen, wie auch ein jüngerer Fall von „Abtrünnigkeit“ im US-Senat illustriert. Es geht um den republikanischen Senator Richard Lugar, Vorsitzender des Senatsausschusses für Außenpolitik, der Ende Juni mehr oder weniger überraschend die Irakpolitik der Regierung kritisierte und einen Truppenabzug forderte. Allerdings sollte erwähnt werden, dass Lugar mit seinem Auftritt in vielerlei Hinsicht zu spät kam. Wenige Wochen zuvor hatte der Senat beschlossen, dass es keine Benchmarks („Etappenziele“) für den Truppenabzug geben wird. Lugar hätte möglicherweise einen Stimmungswandel herbeiführen können – nach der Entscheidung war sein Auftritt zwar medienwirksam, aber außenpolitisch relativ bedeutungslos.
Der durch seine einstige Position als FOX-News-Moderator gestählte Pressesprecher Tony Snow zeigte wiederum keine Hemmungen, die kritischen Aussagen Lugars als Unterstützung der aktuellen US-Politik zu interpretieren:
„Wenn sie sich anschauen, was Senator Lugar bisher über die Truppenverstärkung gesagt hat, so hat er gesagt, dass sie funktioniert.“
Tatsächlich äußerte Lugar u.a. Folgendes:
„Meiner Beurteilung nach ist die gegenwärtige Strategie der Truppenverstärkung keine effektive Maßnahme, die [US-] Interessen zu schützen. Ihre Erfolgsaussichten sind zu stark von den Aktionen anderer abhängig, die nicht unsere Agenda teilen. Sie vertraut auf militärische Macht um Ziele zu erreichen, die sie nicht erreichen kann. Sie bringt Verbündete auf Distanz, die wir für jede diplomatische Anstrengung in der Region brauchen.“
Divide et impera?
Als Indiz für die Erklärung Zakarias könnte man auch das ständige Wechseln der Schwerpunkte im Kampf gegen die Gewalt im Irak betrachten: mal sind es die sunnitischen Aufständigen, dann vom Iran unterstützte schiitische Milizen, dann der Iran-kritische Schiit Al-Sadr. Die Unterstützung von sunnitischen Aufständigen durch die USA, die mit dem alles überragenden Kampf gegen Al Qaida begründet wurde, setzte diesem Wechselspiel vor einigen Monaten die symbolische Krone auf.
Parallel dazu wird die Verantwortung für die desaströse Situation im Irak von der Bush-Administration selbst auf Nachbarländer wie Syrien oder Iran abgeschoben. Eine besondere Rolle spielt dabei Saudi-Arabien, aufgrund von Öl- und Waffengeschäften einer der engsten Verbündeten der USA im Nahen Osten, der zwar den sunnitischen Widerstand gegen die schiitisch dominierte Maliki-Regierung fördert, jedoch von der Bush-Administration mit Samthandschuhen angefasst wird. Allerdings muss dieser Umstand nicht unbedingt mit einer vermuteten Strategie der Destabilisierung erklärt werden. König Abdullah hatte vor kurzem sogar die Invasion des Irak als „illegale fremde Okkupation“ bezeichnet, und dass die US-Regierung auch auf derartige Vorwürfe sehr zurückhaltend reagiert, könnte u.a. mit einem Waffendeal über 20 Milliarden Dollar zusammenhängen, der mit Saudi-Arabien und einigen Nachbarländern abgeschlossen werden soll – und über den bald im Kongress verhandelt wird.
Robert Fisk berichtete im April 2006 unter dem Titel „Durch eine Syrische Linse betrachtet provozieren ‚unbekannte Amerikaner‘ den Bürgerkrieg im Irak“ wie die Vorgänge im Zweistromland von einem seiner syrischen Informanten wahrgenommen werden. Einer der beschriebenen Vorfälle betraf einen jungen Iraker, der in Bagdad von „Amerikanern“ als Polizist ausgebildet wurde – 70 Prozent Fahrunterricht, 30 Prozent Waffentraining. Ihm wurde schließlich aufgetragen, in eine Bagdader Menschenmenge zu fahren und dort auf einen Anfruf über sein Mobiltelefon zu warten. Da er kein gutes Signal bekam, stieg er aus. Kurz darauf flog sein Wagen in die Luft. Fisk kam bei der Rezeption dieser Geschichte offenbar ins Grübeln:
„Unmöglich, dachte ich. Aber dann erinnerte ich mich daran, wie oft mir Iraker in Bagdad ähnliche Geschichten erzählt haben. […] Wer diese Amerikaner denn sein könnten, sagte meine Quelle nicht. In der gesetzlosen und von Panik ergriffenen Welt des Irak gibt es viele US-Gruppen – unter ihnen unzählige, die vermutlich für das amerikanische Militär und das vom Westen unterstützte irakische Innenministerium arbeiten – die außerhalb jeglicher Gesetze und Regeln operieren.“
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